Konventionelle Spielplätze sind für Dr. Hans-Joachim Schemel immer nur zweite Wahl. Wenn es nach ihm ginge, sollten Kinder so viel Zeit wie möglich in der freien Natur spielen. Das „wirkt sich positiv auf die Seele aus“. Das wollten wir genauer wissen und haben nachgefragt…

Herr Dr. Schemel, was ist ein Naturerfahrungsraum?

Dr. Schemel: Naturerfahrungsräume sind klar definiert. Sie sind mindestens 1 Hektar, also 100 x 100 Meter, groß. Dieses Ausmaß ist wichtig, denn erst dann entwickelt der Raum einen eigenen Charakter und Kinder haben das Gefühl in die Natur einzutauchen. Bei kleineren Flächen rücken die Störungen von der Seite – die Bebauung und der Straßenlärm – zu nahe.

Ein Naturerfahrungsraum soll wohnortnah liegen, damit die Kinder diesen zu Fuß und ohne Begleitung von Erwachsenen erreichen können. Das ist wichtig, denn nur so kann das Spielen in der Natur als etwas Alltägliches wahrgenommen werden. Die abwechslungs- und erlebnisreiche Gestaltung mit Wiesen, Wäldern, Büschen, Wasser, Hügeln etc. bietet Kindern genügend Anregungen für ihr freies Spiel. Frei heißt, ohne Reglementierungen und ohne pädagogische Anleitung.


Als Sprecher des Arbeitskreises Städtische Naturerfahrungsräume setzt sich Dr. Hans-Joachim Schemel, Landschaftsarchitekt und Experte für Städtebau und Raumplanung, gemeinsam mit seinen Mitstreitern seit mehr als 10 Jahren dafür ein, dass gerade in Städten so genannte Naturerfahrungsräume entstehen bzw. planerisch gesichert und gegen andere Nutzungsansprüche verteidigt werden.


In Naturerfahrungsräumen sollen Kinder selber machen, was sie wollen und selber herausfinden, was sie alles in der Natur machen können. Die Kinder werden dauernd beschult und belehrt. Deshalb muss man sie auch einfach mal in Ruhe lassen und muss ihnen Zeit geben, zu sich selber zu kommen.

Warum sollten Kinder in der Natur spielen?

Sehen Sie, wir haben heute das Problem, dass die Kinder kaum rausgehen und sich wenig bewegen. Sie verbringen viel Zeit sitzend in der Schule, spielen in ihrer Freizeit am Computer oder sehen fern. Dabei haben Kinder einen tief liegenden Bewegungsdrang und eine Lust am Spielen. Kinder wollen sich unter freiem Himmel austoben.

Natur ist der beste Spielraum für Kinder, weil er die Kinder herausfordert, etwas eigenständig zu machen und viele Möglichkeiten bietet, selber kreativ zu werden. Mehr noch, die Natur zwingt Kinder geradezu kreativ zu werden. Wenn Kinder in der Natur spielen, konsumieren sie nicht nur das, was ihnen angeboten wird. Sie müssen selbst aktiv werden, um die unendlich vielen Anregungen wahrnehmen und in ein eigenes kreatives Spiel umsetzen zu können. Sie erleben die Eigendynamik der Natur und das Gefühl frei zu sein, machen zu können was sie wollen. Das wirkt sich positiv auf die Seele aus.

Quelle: Dr. Hans-Joachim Schemel

Ich bin mir sicher, eine Einstellung bzw. emotionale Nähe zur Natur kann nur über das Erleben von Natur hergestellt werden, nicht über in der Schule vermittelte theoretische Informationen. In der Natur werden die Fähigkeiten entwickelt aus dem eigenen Leben etwas zu machen, weil die Natur dem Kind alle Freiheiten lässt, die es braucht. Freie Natur und freier Mensch – diese beiden Freiheiten gehören zusammen. Und all das fehlt Kindern, die ausschließlich in einer bebauten und gestalteten Umwelt aufwachsen und nicht die Gelegenheit haben, in der Natur zu spielen.

Langweilen sich Kinder nicht schnell in der Natur, weil sie gar nicht mehr wissen, was sie dort spielen sollen?

Es ist teilweise schwierig, Sie haben Recht. Oft sind die Kinder und übrigens auch ihre Eltern von der Natur bereits entfremdet. Kinder wurden nie an Natur herangeführt und empfinden Angst oder Ekel, wenn sie mit Natur in Berührung kommen. In solchen Fällen ist es oft sinnvoll, Kinder in Naturerfahrungsräumen anfangs pädagogisch zu unterstützen, ihnen Spielideen zu vermitteln, sich aber dann so schnell es geht wieder zurückziehen.

Im Übrigen ist Langeweile etwas sehr Wichtiges. Ein Kind muss sich auch mal Langweilen, aber dann die Gelegenheit haben, kreativ zu werden. Langeweile ist oft der Ausgangspunkt für Kreativität. Wenn wir Kinder dauernd bespaßen bzw. ihnen dauernd etwas anbieten und sie in Aktivitäten einspannen, dann haben sie zwar vielleicht keine Langeweile, lernen aber auch nicht, mit Langeweile umzugehen.

Wie wollen Sie Naturerfahrungsräume sichern bzw. verbreiten?

Wichtig ist uns vor allem, die Idee des Naturerfahrungsraums gesetzlich zu verankern. Der Begriff „Naturerfahrungsraum“ wurde durch unser Mitwirken bereits in das Naturschutzgesetz mit aufgenommen. Dort ist er als eigenständige Flächenkategorie aufgezählt, unter erhaltenswerte Grünflächen im städtischen Raum. Gleiches versuchen wir jetzt auch für das Bundesbaugesetzbuch hinzukriegen. Der Vorteil wäre, dass Naturerfahrungsräume dann als solche öffentlich anerkannt wären. Viele Stadtarchitekten und Stadtplaner wissen bisher gar nicht um diese Kategorie.

Prinzipiell sind wir aber eine locker im Verbund organisierte Interessengemeinschaft. Die Mitglieder unseres Arbeitskreises zahlen keine Mitgliedsbeiträge und arbeiten alle ehrenamtlich. Daher besitzen wir keinen offiziellen Status. Dennoch bemühen wir uns, die Idee der Naturerfahrungsräume bekannter zu machen. Wir halten Vorträge, führen Projekte und Forschungsarbeiten durch und veröffentlichen Publikationen zu diesem Thema.

Ist es nicht utopisch in Städten Naturerfahrungsräume einrichten zu wollen?

Nun ja, in eng bebauten Innenstädten ist es teilweise nicht mehr möglich Naturerfahrungsräume einzurichten, denn niemand wird im Normalfall Gebäude abreißen, um Flächen für Naturerfahrungsräume zu gewinnen.

Quelle: Dr. Hans-Joachim Schemel

Aber oft gibt es Flächen, die für die Zukunft als Gewerbeflächen ausgelegt sind, aber als solche noch nicht umgesetzt wurden. Hier ließe sich der Nutzungsanspruch im Flächennutzungsplan ändern. Auch an Wohngebiete grenzende Acker- bzw. Grünflächen lassen sich in der Nutzung umwidmen, wenn das politisch gewollt ist.

Wir haben mal vor Jahren gemeinsam mit dem Gartenbauamt in München systematisch untersucht, wie viele geeignete Flächen es dort für Naturerfahrungsräume gibt und haben 20 Flächen gefunden.

Woran liegt es dann, dass Naturerfahrungsräume kaum in Erscheinung treten?

Uns ist schon bewusst, dass es viele Schranken gibt, die es zu überwinden gilt. Deshalb ist es zunächst mal ganz wichtig, dass die Verantwortlichen vor Ort, die Grünflächenämter und Gartenbauämter, Naturerfahrungsräume wollen. In Bochum entstehen zum Beispiel gerade drei Naturerfahrungsräume, weil der Stadtrat und das Gartenbauamt das befürworten.

Es gibt, wie das Beispiel aus Bochum zeigt, zwar heute inzwischen viele fortschrittliche Kollegen, aber immer noch genügend Gestalter und Landschaftsarchitekten, die gegen Brachflächen sind – nicht gestaltete Flächen gelten als Unding. Das wurde so an der Universität gelehrt und von dieser Vorstellung können sich viele nur schwer lösen.

Hinzu kommen, dass Gerätespielplätze von Geräteherstellern propagiert werden, weil wirtschaftliche Interessen dahinterstehen. Landschaftsarchitekten und Grünflächenplaner bekommen ständig Kataloge von Geräteherstellern zugeschickt und sie verdienen anteilig an den Kosten der Gesamtfläche. Das heißt, je teuer die Fläche (inklusive Geräte), desto höher das Honorar. Deshalb forcieren Landschaftsarchitekten nicht gerade die Planung von Naturerfahrungsräumen, mit denen sich nichts verdienen lässt.

Ist denn die Natur prinzipiell ein sicherer Spielort für Kinder?

Das Thema Sicherheit wird, meiner Meinung nach, leider viel zu oft an die große Glocke gehängt und auch bei meinen Vorträgen und in anschließenden Diskussionsrunden nimmt die Frage der Sicherheit einen zu großen Stellenwert ein, was ich sehr schade finde.

Sicherlich sind es einerseits die übertriebenen Ängste der Eltern, die selbst keinen Bezug zur Natur haben und die Gefahren überschätzen. Andererseits habe ich manchmal den Eindruck, dass das Heraufbeschwören von Gefahren auch von unseren Gegnern als Hilfsargument benutzt wird, um Naturerfahrungsräume zu verhindern. Die Erfahrung zeigt, Kinder ab sieben Jahren, für die der Naturerfahrungsraum bestimmt ist, sind in der Natur prinzipiell nicht gefährdet.

Was soll da besonders gefährlich werden? Auf Bäume zu klettern ist nicht gefährlich. Das muss natürlich gelernt werden. Aber Kinder lernen das sehr schnell und wenn sie dabei auch mal runterfallen, ist das nicht weiter tragisch. Auch die von Wasserflächen ausgehende Gefahr ist begrenzt, wobei die Wasserflächen natürlich nicht zu tief sein und von Sicherheitsexperten abgenommen sein sollten.

Quelle: Ester Langer

Wichtig in diesem Zusammenhang ist eher, dass es gelingt, versteckte Gefahren auszuschließen. Also Gefahren, die nicht erkennbar sind und auf die sich ein Kind deshalb nicht einstellen kann. Andere Gefahren, nämlich so genannte zumutbare Risiken, die überschaubar und beherrschbar sind, gibt es natürlich auch im Naturerfahrungsraum. Zum Glück, denn dadurch lernen Kinder aufmerksam zu sein und trainieren den Umgang mit Gefahren.

Versteckte Gefahren sind vor allem bei konventionellen Spielplätzen ein Problem…

Genau. Wenn zum Beispiel auf einem Spielplatz plötzlich eine Schaukel weg bricht, weil eine Schraube durchgerostet ist, oder ein Klettergerüst in sich zusammensackt, weil ein tragendes Holzteil von innen vergammelt ist. Da machen sich Betreiber von Spielplätzen schuldig, wenn sie solche versteckten Gefahren nicht regelmäßig kontrollieren.

Ist ein Spielplatz im Vergleich zum Naturerfahrungsraum immer zweite Wahl?

Ja. Denn auch wenn es inzwischen schon recht fantasievolle Gerätespielplätze gibt und es gut ist, dass es Spielplätze überhaupt gibt, können gestaltete Grünflächen und Spielplätze nicht die Spielerfahrungen in der Natur ersetzen.

Spielgeräte sind in ihrer Bespielbarkeit größtenteils festgelegt und damit Bewegungsabläufe vorprogrammiert. Kinder machen auf Spielplätzen nur noch das, wo sie hingeleitet werden: „Jetzt rutsche dort runter, jetzt klettere dort rauf.“ Deshalb glaube ich, dass Kinder, die nur auf Spielplätzen spielen, abstumpfen. Aber natürlich ist letztendlich ein gut gemachter Spielplatz auf jeden Fall empfehlenswerter als ein Spielplatz mit 0-8-15 Geräten, wie Schaukel, Rutsche, Wippe.

Wie sollte denn ein guter konventioneller Spielplatz aussehen?

Ich denke, die Vielfalt der Anregungen ist entscheidend. Je mehr Kindern die Möglichkeit gegeben wird, aus dem vorhandenen Angebot auszuwählen, umso geeigneter ist ein Spielplatz.

Der Spielplatz Georg-Freundorfer-Platz, Schwanthalerhöhe in München, den ich oft mit meiner Enkelin besuche, ist ein Beispiel für einen gelungenen Spielplatz – der wurde auch prämiert.

Spielplatz Schwanthalerhöhe in München, Quelle: spielplatztreff.de

Die Grundstruktur besteht aus dicken geschälten Holzstämmen und wirkt wie eine Nachahmung des Waldes. Zwischen diesen Stämmen sind mehrere Ebenen zum Balancieren, Hüpfen, Klettern und Rutschen gespannt. Und es gibt sogar die Möglichkeit mit Wasser zu spielen. Direkt daneben liegt ein Bolzplatz. Das ist wirklich schön gemacht.

An zwei Seiten des Spielplatzes befindet sich ein etwa 8 bis 10 Meter breiter Grünstreifen mit Büschen und Bäumen. Eigentlich eine gute Idee. Nur leider haben hier die Gärtner besonders viele stachlige Sträucher gepflanzt. Ich weiß nicht, warum das gemacht wurde, denn Kinder auf konventionellen Geräteplätzen spielen gern in solchen Randstreifen, die mit ihrer relativ dichten Bepflanzung zum Versteckspielen, Hütten bauen und Klettern anregen.

Was muss eine Gemeinde tun, um einen Naturerfahrungsraum einzurichten und zu unterhalten?

Eigentlich nicht viel. Die Aufgabe einer Gemeinde ist zunächst einmal die Abgrenzung und die Sicherung des Naturerfahrungsraumes. Damit nicht irgendwann einmal jemand anderes die Fläche für seine Zwecke nutzt, muss diese im Flächennutzungs- und Bebauungsplan ausgewiesen werden. Die Siedlungsverdichtung schreitet voran und wenn man nicht rechtzeitig die Hand drauf legt und sagt, diese Flächen wollen wir erhalten, dann ist die über kurz oder lang weg.

Je nachdem, wie die Fläche beschaffen ist, besteht evtl. Bedarf für eine Startgestaltung, um die Vielseitigkeit des Naturerfahrungsraums sicherzustellen.

Wie bei öffentlichen Spielplätzen und Grünanlagen gilt, dass es natürlich auch in Naturerfahrungsräumen regelmäßige Kontrollen geben muss, um morsche Äste abzusägen und Müll zu beseitigen. Der Pflegeaufwand ist dennoch deutlich geringer, da die Vegetation im Naturerfahrungsraum sich mehr oder weniger selbst überlassen wird.

Was können wir als Eltern tun, wenn wir Naturerfahrungsräume für unsere Kinder wollen?

Eltern sollten unbedingt bei ihrer Gemeinde nachfragen, ob das Konzept der Naturerfahrungsräume dort bekannt ist und deutlich machen, dass sie so etwas haben möchten. Eltern sollen sich in Initiativen zusammenschließen und nachfragen, wie der Flächennutzungsplan der Gemeinde aussieht und dort nach möglichen Naturerfahrungsräumen Ausschau halten. Gerne können sie auch mit mir Kontakt aufnehmen. Ich unterstütze sie gerne.

Vielen Dank, Herr Dr. Schemel, für diesen interessanten Ausflug in die Natur und weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.


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